Vierte Reihe, rechts außen.
Über den Kritiker Michael Althen und die Aneignung eines Films
MICHAEL ALTHEN und ERINNERUNG
von Alexander Waszynski
Ich tippe den Namen Michael Althen in die Suchmaske des F.A.Z.–Archivs. Nach kurzer Wartezeit erscheinen 988 Einträge. Das ist viel, denke ich, und überlege angestrengt, wie es zu bewerkstelligen wäre, einen Artikel über jemanden zu verfassen, der in einem Jahr weit mehr als hundert Texte in die Welt setzt und dessen Repertoire an filmischen Eindrücken sich zu dem eigenen wie der kilometerlange Filmstreifen zum Einzelbild verhält. Hilfe verspricht die Simulation einer gängigen Rezeptionssituation. Der Blick des Zeitungslesers etwa hangelt sich zunächst auch zwischen Überschriften, Satzanfängen und Kastentexten entlang. Meist lässt er sich nur dort bannen, wo in diesen Sekundenbruchteilen ein Name, eine Wortfolge oder ein Ereignis seine Aufmerksamkeit zu zünden vermag, sodass der Streifzug plötzlich in ein Jagdunternehmen umschlägt. So ermöglicht mir das Internet ganz unverhofft den Genuss der Lektüre einer Art Zeitung, in der lediglich Artikel eines einzigen Autors erscheinen...
Das Herumscrollen wird sofort von einem Titel ausgebremst: Der ungerührte Blick der Schildkröte dringt ins Auge, provoziert eine Schuss-Gegenschuss-Figur. Doch wer sieht einen dort eigentlich an? Ein Text, ein Tier, ein Kritiker? Es handelt sich um einen Beitrag zu Jim Jarmuschs „Pausenfüllerfilm“ COFFEE AND CIGARETTES (1986 - 2003), dem Althen, das Sujet aufgreifend, schon in der Unterzeile ein Suchtpotential unterstellt. Der Text beginnt mit einer kleinen Geschichte über Jarmusch und die berühmte letzte Zigarette. Hier werden zwei Topoi vorstellig, die das Kino schon lange begleiten: nämlich die Anekdote und das Rauchen. Ein echter Cineast täte schlecht daran, beides als trivial abzutun. Keine große Produktion, zu der es nicht ein ganzes Geschichtenarsenal gibt, kaum ein Regisseur, über den keine Schrulligkeit überliefert ist. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass man diesem Filmwesen, das von den Anekdoten umschwirrt wird wie die Marlene von den Männern, dessen scheinheilige Realitäten sich einem trotz sporadischer Gegenwehr eindrücken, gerne tatsächlich die Greifbarkeit verleihen würde, welche einem das Medium zwar schmackhaft macht, im Kern jedoch vorenthält. Aber man steht immer nur hinter dem Zaun.
Indem Althen regelmäßig auch diesem Teil der Filmwelt Beachtung schenkt, sei es als Eindruck von einer Pressekonferenz oder als Histörchen aus dem Kinosaal, wird offenbar, dass es sich hier auch um das Unternehmen einer Kontaktaufnahme handelt, darum, noch nach dem Erlöschen der Leinwand auf Tuchfühlung mit dem Kosmos der bewegten Bilder zu gehen und den Leser daran teilhaben zu lassen. Es verwundert eigentlich nicht, dass der Versuch, den darin am klarsten leuchtenden Sternen näher zu kommen, eher einem Flug durch planetarische Nebel gleicht, wie es Althen an anderer Stelle (Titel: Tennislehrer und Kanonen) und am Beispiel einer Begegnung mit Godard charmant zu illustrieren weiß: „Wenn man ihm gegenübersitzt und in den Zigarrenrauchschwaden, die seinen Kopf umwölken, am Gesichtsausdruck zu erahnen sucht, ob er meint, was er sagt, oder nur zu scherzen beliebt, kommt man sich vor wie beim Orakel vom Berge.“ Überhaupt, die Zigarette: Sie macht süchtig wie ein guter Film, sie nebelt ein wie eine Kamerafahrt, sie beruhigt, geht vorbei, erlischt, in stillem Pathos; und in alldem geht es, hier in übertragenem Sinne und außerhalb der Warnquadrate der EU-Gesundheitsminister, wie Hartmut Bitomsky in seinem Filmessay DAS KINO UND DER TOD (1988) schon gezeigt hat, um Leben und Tod – um eine gewisse Grundspannung also, wenn man das mal so nennen darf. Und cooler als im Film wird sowieso nirgends geraucht.
Umso interessanter, wenn beides, Zigarette und Anekdote, Gegenstand der Inszenierung wird. Wie eben in COFFEE AND CIGARETTES welcher ja den Ausgangspunkt markierte und irgendwie noch immer herauslugt und auf ein gewitztes wie provokantes Statement zu seinem Regisseur wartet. Eines wie dieses: „Wenn man den Ausdruck bestimmen müsste, mit dem uns seine Filme entgegentreten, dann erinnern sie am ehesten an jemanden, den man aus dem Schlaf gerissen hat und der eine Zeitlang verständnislos in die Welt blinzelt ehe ihm die Augen wieder zufallen“, schreibt Althen. Man sei dem Lauf der Ereignisse geradezu ohnmächtig ausgeliefert: „Die damit verbundene Beunruhigung dringt kaum je an die Oberfläche des Bewusstseins, sondern flüchtet sich in ein Einverständnis mit dem Stand der Dinge, das für Momente alles klarer erscheinen lässt. Im Grunde macht Jarmusch Schildkrötenkino: Sobald man nach einem tieferen Sinn fragt, zieht sich der Kopf in seinen Panzer zurück.“
Michael Althen hat ein untrügliches Gespür für das, was das Kino in einem anrichtet – oder eben nicht anrichtet. Und er scheut sich nicht, dieses Substrat, mal von schalkhafter, mal von bitterernster Bildlichkeit ummantelt, herausfordernd unter die Leute zu mischen. So lässt er Michael Haneke zu einem „Mathematiker menschlicher Emotionen“ gerinnen und macht die Faszination, die von einem Werk wie DAS WEIßE BAND (2009) ausgeht, am „Chirurgenblick“ des Regisseurs fest, spricht von einer „hermetischen Welt, in der eins so konsequent ins andere zu greifen scheint, dass man schleichend von ihrem abgründigen Sog erfasst wird.“ Doch diese Welt bleibe stets eine freudlose, „in der es keine Hoffnung gibt, nicht auf Erlösung und noch nicht mal auf Betäubung, sondern in der nur der immergleiche messerscharfe Blick regiert, der alles seziert, was den Menschen Zuflucht bieten könnte.“ Das sei auf den ersten Blick zwar bestechend, auf den zweiten aber „ein wenig unbefriedigend, weil es außer Acht lässt, dass der Mensch mehr ist als das Ergebnis seiner Einflüsse."
Unter der Überschrift Denken macht schön verbirgt sich eine kleine, frivol eingeleitete Hymne auf Julianne Moore, die soeben für ihre Rollen in Haynes’ FAR FROM HEAVEN (2002) und Daldrys THE HOURS (2002) gleich für zwei Oscars nominiert worden war. Althen bemerkt, dass sie in beiden Fällen „ihren Rollen auf Augenhöhe zu begegnen“ versteht und dabei „ohne jede Herablassung“ auf die von ihr verkörperten Frauen blickt, „welche auf eine Weise in den Konventionen der fünfziger Jahre gefangen sind.“ Was der Kritiker hier an der Schauspielerin schätzt, ist etwas, das gerade auch seine Texte auszeichnet: Man könnte sagen, er begegne seinem Gegenstand ebenso auf Augenhöhe wie Moore ihren Rollen. Er befragt die Bilder auf ihre Wirkmächtigkeit, ohne dabei in einen akademischen oder gar gönnerhaften Habitus abzurutschen.
Bei all diesen Pointierungen stellt sich zwangsläufig das Problem der eigenen Titelgebung. „Vierte Reihe, rechts außen“: Das ist ein Bekenntnis aus Althens Buch „Warte bis es dunkel ist. Eine Liebeserklärung an das Kino" und bezieht sich natürlich auf den all-time-favorite Sitzplatz im Kinosaal. Trotzdem klingt das auch ein bisschen wie eine Bemerkung, die den Fingerzeig auf den eigenen, in einem Klassenfoto verewigten Körper begleiten könnte. Aber auch dort ist die Filmgeschichte beheimatet: in der – warum nicht körperlichen – Erinnerung all derer, denen das Kino an der einen oder anderen Stelle ihres Lebens eine Zuflucht, ein Treffpunkt, ein Augenöffner oder auch nur ein Zeitvertreib gewesen ist. Michael Althen, der eben auch Cineast ist, lässt die Bilder oft genug mit dieser ganz individuellen Kinogeschichte kollidieren. Das mag manchmal ein wenig melancholisch, mal etwas schwärmerisch geraten – es bleibt dabei aber immer eine Ehrlichkeit gewahrt.
„Vierte Reihe, rechts außen“: Das klingt noch vielmehr wie die Stammposition in einer Fußballelf, wo noch Körpereinsatz und spielerische Leidenschaft eher gefragt sind als strategisches Kalkül. Doch wer ist der Gegner, der hier sein Tor verteidigt? Man ist geneigt, diesen in der Flüchtigkeit des filmischen Eindrucks auszumachen, auch darin, dass ein Film von jedem unterschiedlich memoriert wird. Althen hat es in der Formel auf den Punkt gebracht, das Verfassen einer Kritik sei im Grunde der Versuch, „sich schreibend zu erinnern“, der Versuch, sich den Film schreibend anzueignen. Jegliches Sprechen über einen Film, könnte man hieran anschließend generalisieren, setzt zuallererst eine Erinnerungsarbeit voraus. Umso besser, wenn einem in diesem Prozess ein bildgewandter Gesprächspartner gegenüber steht, mit dessen Eindrücken man die eigenen kollidieren lassen kann.
Filmquellen:
Hartmut Bitomsky, Das Kino und der Tod, 46 min, 1988,
Stephen Daldry, The Hours - Von Ewigkeit zu Ewigkeit, 114 min, 2002.
Michael Haneke, Das weiße Band, 144 min, 2009.
Todd Haynes, Far from Heaven - Dem Himmel so fern, 107 min, 2002.
Jim Jarmusch, Coffee and Cigarettes, 96 min, 1986 - 2003.
Literatur:
Michael Althen, Warte bis es dunkel ist. Eine Liebeserklärung an das Kino, München 2002.
Artikel:
- Tennislehrer und Kanonen. In Deckung: Godard spricht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.2004, Nr. 111, S. 39.
- Seltsame Vorkommnisse in Eichwald. Michael Hanekes schöner, trostloser Film "Das weiße Band", in: FAZ, 14.10.2009, Nr. 238, S. 29.
- Der ungerührte Blicke der Schildkröte. Die EU-Gesundheitsminister: Jim Jarmuschs Pausenfüllerfilm "Coffee and Cigarettes" macht sehr schnell abhängig, in: FAZ, 19.08.2004, Nr. 192, S. 35.
- Denken macht schön. Julianne Moore glänzt in "Dem Himmel so fern", in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.03.2003, Nr. 10, S. 23.
Lesenswerte Artikel, deren Besprechung leider kein Platz mehr fand:
- Auf der Suche nach einem Unbekannten. Wie fiktiv ist die Wirklichkeit in einem Dokumentarfilm, in: FAZ, 11.01.2007, Nr. 9, S. 37.
- Das Kino ist eine Scheibe. Mit DVD erfüllt sich der Traum von der eigenen Filmbibliothek, in: FAZ, 18.12.2003, Nr. 294, S. 37.
- Die Ordnung der Dinge. Zum achtzigsten Geburtstag des Filmregisseurs Alain Resnais, in: FAZ, 03.06.2002, Nr. 125, S. 45.
- Ein Jahr in der Hölle. Filmfest München: Eine Dokumentation über einen Film, den es nie gab, in: FAZ, 02.07.2009, Nr. 150, S. 35.
- Eine Welt in Martini. Die Kunst der Bond-Vorspänne, in: FAZ, 28.11.2002, Nr. 277, S. 39.
- Reise ans Ende der Nacht. Wenn die Zeit auf dem Kopf steht: Gaspard Noés "Irreversibel" ist ein filmischer Höllensturz, in: FAZ, 10.09.2003, Nr. 210, S. 39.
- Tausend Tonnen Walfett. Filme von Matthew Barney, Philipp Gröning und Steven Soderbergh beim Festival von Venedig, in: FAZ, 05.09.2005, Nr. 206, S. 33.
- Wo man das Fliegen lernen konnte. Berlinale Bilanz, in: FAZ.NET, 15.02.2009.
- Verzweifelte am See der Gleichgültigkeit. Fünf Filme von Louis Malle in einer wunderbaren Edition, in: FAZ, 27.06.2006, Nr. 146, S. 45.