Kein Zuhause, nirgends
Christoph Hochhäusler und die Architektur in seinen Filmen
von Philipp Döring
ZUHAUSE
Christoph Hochhäuslers erster Spielfilm MILCHWALD (2003) ist eine moderne Variation von Hänsel und Gretel: Nach einem Streit im Auto lässt die Mutter ihre zwei Kinder am Straßenrand mitten im Niemandsland raus, weil sie ihr auf die Nerven gehen. Als sie sie nach dem Einkaufen eine halbe Stunde später wieder abholen will, sind sie verschwunden und werden – anders als im Märchen – auch nicht mehr nach Hause zurückkehren.
Das Haus, in dem die Kinder fehlen, könnte kaum steriler, leerer und lebloser wirken. Das Licht ist bläulich-kühl, die Wände sind glatt und das Telefon hallt elektronisch durch die Wohnung. Ein wilder Kindergeburtstag wurde hier sicherlich nicht sonderlich oft gefeiert. Im Gegensatz dazu ist das Leben draußen in der großen weiten Welt zwar ein wenig unheimlich, aber dafür auch um ein vielfaches spannender, organischer, lebendiger. Das Pendant zum Lebkuchenhaus der Hexe aus dem Märchen ist hier ein Wohnwagen, der in puncto Größe, Abnutzung und Heimeligkeit so ziemlich das komplette Gegenteil der Wohnung der Eltern darstellt. Denn das Haus, in dem die Familie wohnt, ist eines sicherlich nicht: ein Zuhause.
ARCHITEKTUR UND FILM
Die Orte und Häuser, die die Figuren aus Christoph Hochhäuslers Filmen bevölkern, tragen eine Menge zu den Stimmungen seiner Filme bei. Hochhäusler hat vor seinem Filmstudium an der HFF München für einige Jahre Architektur in Berlin studiert. Sein Interesse für die Architektur ist danach nicht verschwunden, es hat sich nur verlagert: in einem früheren Interview sagt er, er hätte "festgestellt, dass das, was mich an der Architektur interessiert, auch im Film zu verwirklichen ist. Und das, was mich an der Architektur nicht interessiert, im Film nicht vorkommt – oder in anderer Form."
Dabei erinnert die Art und Weise, wie Hochhäusler Orte inszeniert, stark an Antonioni , den er auch in unserem Interview kurz erwähnt. In UNTER DIR DIE STADT (2010) finden wir sogar eine direkte Anspielung: So teilt Oliver Svenja seine Entscheidung, nach Indonesien zu gehen, hoch über der Erde auf einem Kirchturm mit – eine Szene, die stark an die Gaudi-Kathedrale in PROFESSIONE REPORTER (1975) erinnert.
ENTFREMDUNG
Die Orte aus Hochhäuslers Filmen bleiben überhaupt auf eine sehr ähnliche Weise wie die Orte aus Antonionis Filmen in der Erinnerung: Bei Antonioni sind es die zerklüftete Insel und die verlassene Stadt aus L'AVVENTURA (1960), die modernen Wohnsilos in LA NOTTE (1961), die Börse in L'ECLISSE (1962), die Loftwohnung des Fotografen in BLOW-UP (1966), und so weiter. In diesen Filmen werden Seelenzustände durch eine virtuose Inszenierung von Gebäuden und Räumen dargestellt, eine Psychogeografie wird entworfen: "Die zweckrationale Architektur bezieht sich in La notte erklärend, deutend und hinweisend auf jene Menschen, denen Umwelt fremd geworden ist und die sich selber als Fremde gegenübertreten." (Müller, 117). Die Architektur wird zum Spiegel der Seele und der Zeit.
Auch bei Hochhäusler gibt es diese Spiegelungen, wenn er die Entfremdung von der Umwelt und von sich selbst thematisiert: in der Wohnung der Eltern in MILCHWALD, in den Büros in FALSCHER BEKENNER (2005), in denen sich Armin vorstellt, und natürlich in der Bank in UNTER DIR DIE STADT.Hier liegen die Innenräume zwischen glatten, leicht metallisch schimmernden und spiegelnden Wänden, die von großen Fenstern durchbrochen sind, hintern denen die anderen großen Fenster und Spiegelflächen von Frankfurt zu sehen sind. Hier bleibt der Blick nirgends haften. An diesen glatten Wänden gibt es keinen Halt, ebensowenig wie an den Fenstern, die als unsichtbare und nicht-greifbare Wand durchlässig sind für den Blick der Kamera. Immer wieder fährt die Kamera diese Wände ab, als suche sie einen Lücke, eine Schramme, doch da ist nichts. An einer Stelle fährt Svenja mit den Fingern über ein Astloch an einer dunklen Holzwand in der Bank (ein weiteres Antonioni-Zitat!), doch diese Unregelmäßigkeit im Holz ist an der Oberfläche nicht mehr zu spüren. Ihre Hand gleitet ohne Widerstand über das Holz.
Auch das eigene Zuhause bietet den Figuren in Hochhäuslers Filmen keinen Halt. Die Wohnung der Eltern in MILCHWALD könnte eigentlich auch eine kleine Kreissparkasse sein; im FALSCHEN BEKENNER begegnen wir der verstaubten Spießigkeit einer Wohnung, in der die Möbel vor Urzeiten einmal eingerichtet und seitdem nicht mehr bewegt wurden. Für Unordnung ist hier kein Platz: in einer wunderbaren Szene schneidet sich Armin langsam und gründlich die Fingernägel. Er sieht sich um und lässt die abgeschnittenen Nägel schließlich hinter dem Toaster im unsichtbaren Gedächtnis der Wohnung verschwinden.Die Wohnung von Svenja und Oliver in UNTER DIR STADT schließlich ist noch nicht einmal eingerichtet: Die beiden sind erst vor kurzem eingezogen, die Wohnung ist groß und hell, aber wird doch nicht zu dem Zuhause, das zumindest Svenja sich wünscht, sondern behält über den ganzen Film den Charakter des Vorläufigen und Unfertigen. Die beiden kaufen ein Sofa, das in Plastikfolie eingepackt geliefert wird und diese im Film auch nicht ablegen wird.
PRÄFIGURATIONEN
Als wir uns mit Christoph Hochhäusler unterhalten haben, sprach er auch von "Präfigurationen" – also davon, wie bestimmte Räume die Inszenierung beeinflussen.Während es ja eigentlich so sein sollte, dass sich die Menschen Häuser bauen, in denen sie nach ihren Bedürfnissen leben und arbeiten können, scheint in Hochhäuslers Filmen durchweg das Gegenteil der Fall zu sein. Die Häuser waren zuerst da, und diesen Häusern müssen sich die Menschen anpassen. Nicht Menschen schaffen Orte, sondern Orte schaffen Menschen. Die Menschen machen sich die Räume nicht zu eigen, sondern umgekehrt: Die Chefetage im Frankfurter Wolkenkratzer hat ihre Bewohner fest im Griff.
In MILCHWALD gab es noch das Gegengewicht, die nahezu romantisch verklärte, wunderbar phantastische Natur. Doch in den folgenden Filmen scheint dieses Gegenwicht sich nach und nach aufzulösen: Im FALSCHEN BEKENNER tritt sie noch beim Sonntagsspaziergang und um die Autobahn herum auf, in UNTER DIR DIE STADT ist sie praktisch nicht mehr existent. Weiter als drei Schritte aus dem Mercedes in das Gestrüpp neben der Autobahnauffahrt geht es nicht mehr. Die Glasfassaden der Häuser und der Asphalt der Straßen und Autobahnen, die schon im FALSCHEN BEKENNER an das Wohnhaus von Armin herangereicht haben, haben die Natur besiegt.
Für Empathie und Beziehungen zwischen den Menschen ist hier kein Platz mehr. Oder vielleicht zu viel Platz: Die Menschen sind verloren wie Monaden in diesen sterilen, fast virtuell gewordenen Welten. Es scheint das unausgesprochene Gesetz zu gelten, dass Menschen sich nicht miteinander verständigen oder gar einander verstehen können.
SEHNSUCHT
Diese Leere und Entfremdung wird von Hochhäusler etabliert, um gebrochen zu werden. Hier kommt die Kraft der Sehnsucht ins Spiel: Sie treibt Armin dazu, sein Bekennerschreiben zu verfassen, und bringt Svenja und Roland Cordes dazu, eine Affäre miteinander zu beginnen.
Doch obwohl die Sehnsucht nach einer Veränderung deutlich spürbar ist, erscheint sie doch gleichzeitig einigermaßen diffus und schwer zu fassen. Eine Sehnsucht nach Körperlichkeit schwingt darin mit (die Affäre, der Unfall), nach einer bleibenden Erinnerung, nach einem "Einbruch der Wirklichkeit", nach etwas, das die Einförmigkeit des Daseins durchbricht.
Vielleicht wird die Sehnsucht am besten von einer der wenigen Figuren artikuliert, die diese Sehnsucht selbst gar nicht zu empfinden scheint: Die erste Begegnung zwischen Svenja und Cordes in UNTER DIR DIE STADT findet bei einer Preisverleihung für einen Fotowettbewerb statt. Aus der Ferne hört Svenja der Laudatio zu, die von Cordes' Ehefrau gehalten wird. Sie schnappt gerade noch die Worte auf: "Die Neutralität muss verletzt werden!", dann wendet sie sich ab. Diese "Verletzung der Neutralität", die vor einer still sitzenden Menge an Anzugsmenschen verkündet wird und durchaus als Parodie auf derartige Preisverleihungen inszeniert ist, liegt als Wunschtraum für Svenja über dem ganzen Film und scheint auch der Sehnsucht von Armin eng verwandt zu sein, als er sein Bekennerschreiben einwirft. Wie das Astloch an der Holzwand die neutrale Einförmigkeit des Holzes durchbricht, so wünscht sich auch Svenja eine Verletzung der Neutralität ihres persönlichen Erlebens. Die glatten und sterilen Wände der Häuser erscheinen hier deutlich als Spiegel des leblosen Gefühlshaushalts der Figuren.
Allein – die Versuche, die eigene Sehnsucht zu befriedigen, bleiben wenig wirksam. Svenjas Affäre scheint ihr Lebensgefühl nicht positiv zu beeinflussen, und so beendet sie sie dann auch wieder. Armin sieht zwar die reißerischen Bilder in der Zeitung und im Fernsehen, doch das Spektakuläre dieser Bilder überträgt sich nicht in seine Realität.
FERNE WELTEN
Die Rolle des Walds aus MILCHWALD und der TV-Bilder des Unfalls aus FALSCHER BEKENNER übernimmt in UNTER DIR DIE STADT das ferne Indonesien. Es scheint als nicht-greifbarer Bezugspunkt auf, an dem Menschen barbarisch ermordet oder gigantische Bankprojekte und Karrieren gemacht werden können, ein Land, in dem gerade eine Revolution stattfindet, von der aber niemand etwas genaueres weiß. Ein Ort, in dem die "Neutralität durch und durch verletzt" ist.
Hier baut Hochhäusler das Geheimnis, nach dem seine Figuren sich so sehr sehnen, sehr geschickt nur indirekt auf: Die blutüberströmte Leiche von Oliver Steves Vorgänger in Indonesien sehen wir nur auf Fotos auf Cordes' Schreibtisch, das heißt medial übermittelt und indirekt; und als Oliver herausbekommt, wieso seine neue Stelle frei geworden ist und er in Indonesien von Entsetzen gepackt wird, so hören wir Zuschauer das ebenfalls nur indirekt über das Telefon, im Bild zu sehen ist nur Svenja.Die direkte Anschauung der Erfahrung der Angst bleibt dem Zuschauer also vorenthalten.
DIE DUNKLE SEITE
Während die ferne Welt Indonesien in UNTER DIR DIE STADT nur indirekt auftaucht und auch der Unfall in FALSCHER BEKENNER über die TV-Bilder nur medial vermittelt wird, gibt es bei Hochhäusler immer noch diese "Anti-Orte", in denen die dunklen Seiten der Figuren zum Vorschein kommen. In FALSCHER BEKENNER sind es die traumartigen Sequenzen, in denen Armins homosexuelle Phantasien mit einer komplett in schwarzem Leder eingepackten Motorradfahrergang zutage treten, in UNTER DIR DIE STADT muss Cordes' Chauffeur seinen Chef an einen Ort fahren, wo er gegen Geld Junkies dabei zusieht, wie sie sich einen Schuss setzen.
Doch obwohl an diesen Orten die unterdrückten Emotionen und Aggressionen offen sichtbar sind – die Inszenierung dieser Handlungen und Orte ist kaum weniger steril als die der "normalen" Welt. Das Autobahnklo ist glatt und ungreifbar wie die Büroräume und der Fixerort hat zwar eingeschlagene Scheiben, aber auch hier herrscht helle Kargheit; das Bett, auf das der Junkie sinkt, erinnert mit seiner verwühlten Decke direkt an das Bett von Svenja.
KONSTRUKTION UND WUNSCHTRAUM
Vielleicht kann es einen anderen Ort nur in der Phantasie geben? Roland Cordes erfindet für Svenja eine Jugend und ein Elternhaus, das gar nicht seines ist, das ihm aber möglicherweise irgendwie lebendiger zu sein scheint als sein eigenes. Der Hauptzeuge dafür ist ein Foto, das einen stolzen kleinen Jungen mit seiner Schultüte vor seinem Elternhaus zeigt – ein Ort, zu dem er sich zumindest zugehörig zu fühlen scheint. Dieser Junge ist der Bankmitarbeiter, der in Indonesien ermordet wurde, Olivers Vorgänger in Fernost (schon das ist vielleicht kein vielversprechendes Vorzeichen). Cordes verleibt sich dessen Identität Svenja gegenüber ein, er erfindet einen Lebenslauf ihr gegenüber. Zusammen mit Svenja fährt er zu dem Haus, vor dem das Foto gemacht wurde und stößt dort nur noch auf eine verfallene Wohnung. Aber vielleicht ist das die einzige Möglichkeit des Entkommens – sich an einen Ort hinzuträumen, der in einer geträumten Vergangenheit liegt? An einen Ort, der nicht von der Realität zerstört werden kann, da er imaginär ist?
Allerdings wird auch dieser Traum zerstört: Nachdem seine Frau die Affäre spitzbekommen hat, will Cordes auch Svenja gegenüber reinen Tisch machen. Er gesteht ihr, seine Biographie erfunden zu haben; dass Svenja das Ende seines Geständnisses nicht mehr mitbekommt und es ungehört im Parkhaus verhallt, weil sie schon im Taxi sitzt, macht das Zerplatzen dieses zusammengeträumten Zuhauses nur noch kläglicher.
AUSWEGE?
Lösungsansätze bietet Hochhäusler in seinen Filmen nicht an. Wenn überhaupt, dann tritt eine Veränderung immer nur von außen auf. Alle Versuche der Figuren, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und zum besseren zu wenden, scheitern kläglich. Das einzige, was bleibt, ist die Hoffnung auf ein glückliches Ereignis von außen.
Es gibt eine Anekdote über die "wahre Geschichte" des Motivs des Elternhauses in MILCHWALD. Dieses Haus soll angeblich einem Mann gehört haben, der es schon vor Jahren gekauft hatte, aber noch nicht eingezogen war. Er wollte es seiner Frau schenken und sie zur Einweihung feierlich über die Schwelle tragen – aber diese Frau musste er erst noch kennenlernen! So stand das Haus originalverpackt (mit der Folie ums Treppengeländer, die auch im Film zu sehen ist), nagelneu und unbenutzt da, in Erwartung des glücklichen Paares, das dort möglicherweise eines Tages einziehen sollte.
Genau diese Situation bildet übrigens die Konstellation für einen Roman von Patricia Highsmith, "This Sweet Sickness". Die ewige Erwartung, das Versprechen einer glücklichen Zukunft scheint auch in Christoph Hochhäuslers Filmen immer wieder auf. Am Ende von FALSCHER BEKENNER wirkt Armin fast glücklich, dass endlich etwas passiert, als er von der Polizei abgeholt wird, und am Ende von UNTER DIR DIE STADT, als eine Art Epilog, fliehen die Menschen wie in einem Katastrophenfilm durch die Straßen, als wäre Godzilla hinter ihnen her, und auch Svenja wirkt keinesfalls beängstigt, sondern eher freudig. Hauptsache, irgend etwas geschieht, irgend etwas ändert sich, und wenn es eine Katastrophe ist. Es kann nur besser werden.Ob der Besitzer des Hauses aus MILCHWALD inzwischen geheiratet hat oder vielleicht doch alleine eingezogen ist, entzieht sich leider meiner Kenntnis.
Literaturangaben:
- Müller, Uwe: Der intime Realismus des Michelangelo Antonioni, Books on Demand Gmbh 2004.
- Highsmith, Patricia: This Sweet Sickness, Penguin.
Interview mit Christoph Hochhäusler im movie-college.